Unvergessliches Scheitern – auf dem Mountainbike vom Mont Blanc zum Matterhorn
Jules Dreyer blickt direkt in die Kamera. Sein Gesicht ist eingefallen, die Schultern hängen. „Non, pas la joie là.“ – Das ist kein Spaß mehr. Jules und sein Freund Valentin schieben ihre Enduro-Bikes den Pas de Lona in der Schweiz hinauf. Sie wollen einen einzigartigen Weltrekord aufstellen: von Charmonix am Fuße des Mont Blanc nach Zermatt am Matterhorn fahren. 220 Kilometer, 12.000 Höhenmeter – in 48 Stunden.
Ein Zufallsfund und vier Monate Planung
Der ungewöhnliche Rekordversuch kam durch einen Zufall zu Stande. Jules las im vergangenen Winter über Bergsteiger-Routen und stieß dabei auf die Haute-Route. Der weltbekannte Weg aus dem 19. Jahrhundert ist für Wanderer und Skifahrer gedacht. Letztere brauchen für die rund 180 Kilometer zwischen Charmonix und Zermatt gut sieben Tage. „Ich bin kein Ski-Fahrer, deswegen fragte ich mich, ob man die Strecke auch mit dem Mountainbike fahren kann“, erzählt Jules. In den folgenden Monaten plante der Cube Vittoria Collective Enduro-Rennfahrer eine Route, die man mit dem Mountainbike bewältigen – viele der Wanderwege sind nicht für Fahrräder ausgelegt – und trotzdem den Gletschern, die auf dem Weg liegen, so nahe wie möglich kommen kann.
Als Partner kam für Jules nur sein Kindheitsfreund Valentin Schindler, ebenfalls Enduro-Rennfahrer aus dem Cube Vittoria Collective, in Frage. Valentins spontane Antwort: „Eine Wahnsinns-Challenge!“ Sofortbegannen die beiden mit dem Training. „Als ich anfing dieses Projekt zu planen, fiel es mir schwer, über etwas anderes nachzudenken,“ so Jules, „Es war mein Saison-Ziel und ich wollte mit unter 48 Stunden einen Rekord aufstellen.“ Begleitet wurden er und Valentin bei ihrer Challenge von zwei Kameraleuten, Louis Dreyer und Hugo Lorentz, sowie Robin Brucker und Charlotte Dreyer, Jules’ Schwester. Nach vier Monaten Planungszeit, im Juli 2025, war es dann endlich so weit.
Ein Start in Dunkelheit
Das Team um Jules kam eine Woche vor dem Start in die Region, um sich zu akklimatisieren, die Planung abzuschließen und einige Trainingstouren zu fahren, um ein Gefühl für das Gelände zu bekommen. Bis zum Tag vor der Challenge arbeitete das Team noch an der Route, um die letzten Details auszuarbeiten. Ausgerüstet mit Ergon GHD Griffen, HM2 Handschuhen, BA2 und BA3 Rucksäcken, einem SM Enduro Sattel für Valentin und ein SM Enduro Pro für Jules, begann die Herausforderung – mitten in der Nacht. Der erste Aufstieg zum Col de Balme mit Steigungen bis zu 20 Prozent zeigt schnell die Schwierigkeit des Unterfangens. Nicht nur ist die Strecke steil und unwegsam, auch müssen die beiden den Wachhundender Kuhherden ausweichen. Pünktlich zum Sonnenaufgang erreichen sie die Passhöhe und genießen die fantastische Aussicht bevor sie sich in die schwere Abfahrt hinunterstürzen.
Im Verlauf des Tages bewältigen Jules und Valentin eine anspruchsvolle und abwechslungsreiche Route. Steile Aufstiege über steinige Wanderwege im Wald wechseln sich mit schnellen Abfahrten über Schotterwege auf den Almen und kurvenreichen Single Tracks mit viel Exposure ab. Die Strecke ist anspruchsvoll – und wunderschön. Kurze Pausen dienen der Verpflegung – Energie Gels, zuckerhaltige Getränke. Dann tauchen erste Probleme auf. Krämpfe in Beinen und Rücken. Es ist heiß, aber auf den anspruchsvollen Abfahrten ist es schlicht unmöglich genug zu trinken. Am Ende des Tages werden Müdigkeit und Erschöpfung immer stärker. Jules wird von Verdauungsproblemen geplagt. Ein echtes Tief vor dem Aufstieg bei Mandéon überwinden sie mit Hilfe ihres Teams, das den beiden immer wieder mit moralischer Unterstützung zur Seite steht. Jules und Valentin kämpfen sich in der Nacht auf die Spitze des Mandéon, wo sie endlich drei Stunden schlafen können.
Hitze, Anstrengung und ein frühes Ende
Der zweite Tag startet nicht besser als der erste aufhörte. Vermeintlich flache Abschnitte stellen sich als Steigung heraus – kosten Zeit und Kraft. Jules kann noch immer nicht richtig essen, seine Energie neigt sich dem Ende. Die Biker kämpfen. Jeder Höhenmeter wird zur Tortur. Beim 1.000 Meter-Aufstieg auf den Pas de Lona schlägt die Hitze mit mehr als 30 Grad voll zu. Jules und Valentin müssen immer öfter das Rad schieben, benötigen immer öfter Pausen. Die Verpflegung wird knapp, die Stimmung kippt – zusammen mit dem Zeitplan. Zwar erreichen sie die Spitze des Passes, ab am Ende ist klar, in ihrem angeschlagenen Zustand ist Weiterfahren bei der Hitze zu gefährlich. Sie brechen den Rekordversuch nach 35 Stunden und 8.000 Höhenmetern ab. Ihre Reise endet endgültig am See Moiry – nur zwei Pässe (Augstboardpass, Meidpass) von Zermatt entfernt.
Scheitern ist nicht das Ende
„Wenn wir über das Scheitern sprechen, haben wir oft ein verzerrtes Bild im Kopf“, meint Jules nach dem Abbruch. „Wir sehen nur das plötzliche Ende: Das Projekt, das auseinanderfällt, den Zeitplan, den man nicht einhält, den Anstieg, den man nicht schafft.“ Für Jules ist diese Sicht zu eingeschränkt. „Scheitern gehört dazu, wenn du Rekorde aufstellen willst. Es ist ein Spiegel, der zeigt, wo Vorbereitung und Planung zu kurz gegriffen haben und wo körperliche und geistige Grenzen liegen.“ Am Ende sei Scheitern nur ein zeitlich begrenzter Zustand, ein Meilenstein auf dem Weg zum Erfolg oder einer besseren Version unserer selbst, sagt er. Das Abenteuer zwischen Charmonix und Zermatt zeige dies deutlich. „Du hast einen perfekten Abschnitt, dann geht alles schief. Du hast die volle Kontrolle, dann fühlst du dich verletzlich. Wenn du akzeptierst, dass Erfolg nicht alles ist, kannst du aus einer Niederlage enorme Stärke schöpfen.“
Es scheint sicher – Jules und Valentin sind noch nicht fertig mit der Haute-Route.
Fotos: Hugo Lorentz - Humovision